Mit freundlicher Genehmigung des Ruderers und Autors Ronald Roggen sowie der NZZ
Rudersport als Lebensschule
Die Psyche rudert mit
Wer rudert, erfährt vieles über seine Mitmenschen. Denn wer im selben Boot sitzt, kann seine psychischen Eigenschaften nur schlecht verheimlichen – eine Fahrt auf dem Vierwaldstättersee.
Rudern ist vieles, aber nicht Sport – sagen viele, die im Ruderboot mehr sehen als nur ein kräftiges Ziehen. Sie vermuten im Hin und Her des Rollsessels einen heimlichen Mechanismus, der den Körper rückwärts bewegt, wenn er vorwärts will. Der die Seele packt, obwohl alle nur von körperlicher Fitness reden. Beim Rudern ist der Sport die herrlichste Nebensache der Welt. Die Hauptsache bewegt sich da drinnen. Sie irren alle gewaltig, die Klubpräsidenten und Trainer. Es könnten muskuläre Defizite behoben werden, sagen sie. Es würden nirgends so viele Hauptmuskelgruppen einbezogen wie auf dem Ruderboot. Rudern fördere den Körper im Kraftausdauer-Bereich und erzeuge eine «aerobe Ausdauer». So erreiche man eine hohe Leistungsfähigkeit von Herz, Kreislauf und Atmung. Dabei würden namentlich Bauch, Beine, Po – lasen wir das nicht schon an anderer Stelle? – durchtrainiert, aber auch Schultern, Rücken und Arme. Und alles gelenkschonend, für jedes Alter geeignet, ein sicheres Plus für das Immunsystem. – Alles gut und recht, aber da ist doch anderes ungleich wichtiger, sagen viele.
Lauter Quadrate im Boot
Der Psychologiestudent im dritten Semester, der im Ruderclub Reuss in Luzern beim Breitensport mitmacht, obwohl er schlank und rank daherkommt, ist auch ohne Rudern ein aerobes, also sauerstoffgebundenes Lebewesen. Er steht jetzt auf dem Platz, wo sich Gruppen organisieren und Boote beschaffen und Ruder tragen und Fragen stellen. Er ist Teil eines Haufens. Ein Trupp hätte eine Linie gebildet, eine Familie hätte sich umarmt, ein Team hätte zusammengefunden. Der Studiosus sieht nur den Haufen und schreibt es unterschiedlichen Motiven zu. Eine junge Frau leidet unter Arbeitslosigkeit und sucht Strukturen. Ein älterer Mann fühlt ihren Blick auf sich gerichtet und zieht den Bauch ein. Er wird die gleichen Neckereien, die er vorgestern mit seinem Ruderkumpel tauschte, in Anwesenheit einer Frau gar nicht gerne hören.
Der Haufen will jetzt gar nicht rudern, sondern möglichst heil die erste gruppendynamische Phase hinter sich bringen. Die verlangt ein Forming innerhalb des Haufens, ein erstes Zusammenraufen. Das ginge ja noch. Denn bald führt ein wildes Storming zu heissen Köpfen, weil nicht alle ein Viererboot wünschen und eine Untermenge davon schon gar nicht die Seebucht befahren will, sondern die Route nach Kastanienbaum. Eine Unteruntergruppe denkt weiter – bis Horw.
Schliesslich hebt sich die Gruppe vom Haufen ab und schleppt ihr Boot hinaus zum Steg. Die Crew wird rückwärts rudern. Auf Platz 1 ganz hinten, vorne am Bug, macht es sich ein Mann bequem, der sich schon beim Einsteigen in der Selbstverkleinerung übt, indem er bekanntgibt, dass er nur wenig Rudererfahrung besitzt. Er ahnt nicht, dass jeder Satz vier Komponenten enthält. Neben der Selbstoffenbarung (1), die ihm einen Freipass für Fehler gibt, äussert er sich auch über die Empfänger der Botschaft (2), die Crew: «Bei euch Perfektionisten ist jetzt Rücksicht gefragt.» Die Aussage charakterisiert zudem die Beziehung (3) im Boot. In dieser Beziehung befindet sich der schüchterne Anfänger im unteren Segment. Was aber macht den Sachinhalt (4) seiner Aussage aus? «Da rudert einer besonders schlecht.» Interessant: Nicht alle werden aus diesem einen Satz den gleichen Satz herauslesen.
Auf Platz 2 rudert der Student, auf Platz 3 die Arbeitslose, auf Platz 4 ein blass wirkender Mann im königsblauen Dress. Ihnen gegenüber hat sich am Heck der Steuermann placiert, der als Einziger in die Fahrtrichtung blickt. Nein, der Steuermann sitzt nicht auf der Steuerbordseite, dort sitzt überhaupt nie jemand. Wenn dieser Steuermann Steuerbord sagt, blickt er nach rechts. Die aktiv rudernde Crew blickt dann ebenfalls nach links.
Mit Rollen unterwegs
Die Crew besteht jetzt aus den Nummern 1, 2, 3 und 4 und einem nummernlosen Steuermann. Das sieht nach Gleichwertigkeit aus, ist es aber nicht. Es läuft andersrum im Ruderboot. Eigentlich wäre der Held mit dem königsblauen Dress der Chef der Ruder-Crew, weil er der Schlagmann ist. Aber die Natur hat dem Königsblauen keine Anlagen eines Alphatieres geschenkt, sondern jene eines braven Arbeitstieres. Dafür wäre der Student ein Alphatier. Aber nur von der Veranlagung her, denn im Boot hat der Psychologiestudent nichts zu sagen. Hier hat er zu kopieren, was der Königsblaue tut. Die Rollen der Natur kreuzen sich also mit jenen der Logik im Ruderboot. Alle wissen, dass Rechtsverkehr herrscht. Aber im Code des Klubs heisst es: «Jedes Wasserfahrzeug weicht beim Kreuzen nach Steuerbord aus.» Jede und jeder wird also kräftiger am Backbordruder ziehen müssen, damit es nach Steuerbord zieht. Alle denken links, ziehen rechts und hoffen, dass es in der Mitte nicht kracht. Beim Wort «Kreuzen» fährt kalter Schauder über den Rücken der Ruderer. Die Website hatte ja versprochen, dass der Kreislauf belebt wird. Die Knie schlottern, aber alle wissen, dass dies gelenkschonend passiert.
Und wenn im Wasser eine Stange kommt? Es kommt nie eine Stange. Das Boot fährt auch nicht der Stange entgegen, denn die Arbeitslose hatte angstvoll nach schräg hinten links geäugt und dort die Stange entdeckt, darauf «Stange!» gerufen und damit alle aufgeschreckt. Gerade rechtzeitig. Die Ängste fahren mit. Angst vor den Wellen, vor dem Wasser im Boot, vor dem Kippen. Und eine höllische Angst vor dem Krebsen, wenn das Ruderblatt eingedreht wird und der Rudergriff auf den Bauch donnert. Ängste sind ein Produkt des Lebenstriebes, hat einmal einer gesagt. Wenn der Steuermann eine Steuerfrau wäre, würde diese ihre Angst eingestehen, die Anerkennung der Crew zu verlieren.
Kindes-Ich und Eltern-Ich
Die Arbeitslose ist jetzt stolz, umso mehr, als der Trainer neulich erklärt hat, dass Frauen besser rudern. Genauer: dass Frauen schwächer seien und sich deshalb ihre Fehler weniger stark auswirken als bei Männern, die genauso falsch rudern, es dann aber kraftvoll tun. «Jede Coiffeuse rudert besser», hörten die Männer und wurden kleinlaut. Meistens rudert man langsam und kraftloser viel besser, lernten sie. Es ist wie bei der Bergpredigt. Die Letzten werden die Besten sein.
Es gibt viele Ruderer, die ins Kindes-Ich schlüpfen, wenn sie ein Boot besteigen. Einfach den Vordermann befragen und ihm danken für seine Information, auch wenn man diese längst schon kennt. Zwei erfahrene Ruderinnen wählen dafür das Eltern-Ich und leben ihren Betreuungstick aus, wenn ein Greenhorn zusteigt. Wie ein Spinnennetz verbinden Transaktionen die einzelnen Menschen im Boot.
Die Arbeitslose stellt dem Vordermann eine Frage, aber sie sagt ihm nicht, dass seine Ruderblätter ungleich tief ins Wasser tauchen. Sie spürt die Folgen seines Fehlers, das Schwenken des Bootes. Doch die junge Frau schweigt, weil die Einsamkeit sie keine Feedbacks üben liess. So wird der blinde Fleck am Schlagmann haftenbleiben bis zum Ende der Fahrt. Und weil der Schüchterne auf Tauchstation geht, trägt auch er nichts bei zur Gemeinsamkeit – eine magere Basis für die Gruppendynamik. Glücklicherweise steuert der Trainer vom Begleitboot aus einige Erkenntnisse in Sachen Ruderverhalten bei. Jetzt beginnt die Gruppe, sich als Gruppe zu bewegen.
Ist es Drill?
Macht die Gemeinsamkeit aus dem Rudervergnügen eine Sklaverei? Das hätte niemand geschätzt. Umso mehr freut der Rat eines Könners, sich doch an die Weisheiten von Zen zu halten. Diese Buddhisten leiten den Bogenschützen an, sich vom Schuss überraschen zu lassen, und den Ruderer, Gleiches beim Eintauchen der Ruderblätter zu erfahren. Der Schlagmann sollte auch nie den Takt abzählen, sondern dem inneren Rhythmus vertrauen. Was nach Drill aussieht, war nie als solcher gedacht.
Viele rudern abends, noch den Stress des Tages im Nacken. Sie karren dann ihren Rollsessel blindwütig hin und her. Wenn der Ruderer am Ruder zieht und so das Boot vorwärtsbringt, soll es zwar kräftig und zügig geschehen. Das Zurückrollen aber darf doppelt so lange dauern. Das rückt das Rudern in die Nähe einer Burnout-Therapie, bei der es darum geht, Stressopfer aus ihrem Hamsterrad zu holen. «Ohne Schritt, marsch!» heisst es beim Schweizer Militär, wenn die Soldaten taktfrei über eine Hängebrücke marschieren sollen. Wenn die Crew länger sanft zurückrollt, als sie vorher kräftig gezogen hat, beginnen Boot und Menschen zu segeln.
Wenn das Boot ein «Schwatzboot» ist, wird mehr ausgetauscht, auch über beobachtete Ruderfehler. Andere Boote stampfen schweigend über den See. Ihre Crews ahnen nicht, dass man auch im Boot nicht nicht kommunizieren kann. Geschieht es nicht mit Worten, dann ohne. Verbissen senken ins Schweigen versenkte Ruderer ihre verlängerten Hände tief ins Wasser ein. Zu tief, denn Rudern ist ein oberflächliches Geschehen, kein Ruderblatt darf im Unterbewussten verschwinden. Spiel mit mir, lockt das Ruderblatt. Tauche, drehe, schwebe – aber spiele!
«Ich hätte es geschätzt, wenn der Steuermann uns beobachtet und auf falsches Verhalten aufmerksam gemacht hätte», sagte ein älterer Mann, als er aus dem Vierer wankt. «Einfach nur rudern genügt mir nicht», sagt eine junge, aber reife Frau. «Ich hätte gerne mit Übungen die Fahrt unterbrochen, sonst lerne ich nichts.» Beim Reinigen, wenn der Lappen über den Bauch des Bootes schwenkt, kommt Metakommunikation auf: das Reden über das Reden und über das Nichtreden ebenso.
Vielfach löst erst das gesellige Beisammensein die Zungen. Dann erkennt die Arbeitslose, dass sie im Soziogramm mehr als nur ein abgehängtes Kreislein ist, sie ist eingeklinkt in eine kleine Gesellschaft. In einen Klub, der über Schultern, Rücken und Arme, über Herz, Kreislauf und Atmung, über Hauptmuskelgruppen und Kraftausdauer, über Bauch, Beine und Po hinaus ganz andere Welten öffnet. Der Studiosus wird sich beruflich der Psychosomatik zuwenden. Hier haben Physis und Psyche ihr Stelldichein. Die treffen sich im Breitensport. Also, abgemacht, sagt Physis, die eben noch glaubte, Rudern sei vor allem Sport. Am Montag wieder, abends um halb sieben.
( gefunden hier: http://www.nzz.ch/schweiz/die-psyche-rudert-mit-1.18346518 )